OCCAM OCÉAN

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OCCAM OCÉAN
Zeit Samstag 03. Dezember 2022
19:30 – 21:30
Genre Concert
Teilnehmende
  1. Dafne Vicente-Sandoval
  2. Éliane Radigue
  3. Alvin Lucier
  4. Robin Hayward
  5. Rhodri Davies
  6. Charles Curtis
Beschreibung

18:40 – Einführung

Geeignet für alle, die gern 120 Minuten lauschen.

Programm

Alvin Lucier: «Slices» (2007 – 2012 – 2019)

für Cello und zugespieltes Orchester

– PAUSE –

Éliane Radigue: «Occam Océan» (2011 – )
«Occam XIII» (2015)
für Fagott
«Occam River XXI» (2019)
für Tuba und Harfe
«Occam Delta XVII» (2022)
für Fagott, Cello und Harfe
Uraufführung World premiere
«Occam XI» (2014)
für Tuba solo
«Occam River XI» (2015)
für Fagott und Cello
«Occam Delta VIII» (2015)
für Fagott, Tuba, Cello und Harfe

Dafne Vicente-Sandoval – Fagott
Robin Hayward – Tuba
Charles Curtis – Cello
Rhodri Davies – Harfe

Beschreibung

Dieses Konzert ist ein musikalisches Äquivalent zu Slow Food: Jeder Ton wird einzeln betrachtet, jedes Timbre seziert und als sein Gegenteil recycelt – ein höchst sinnlicher und meditativer Prozess. Den Musiker:innen verlangt es ein virtuoses Bewusstsein dafür ab, was die kleinste Veränderung auslöst und wie die Rolle jedes einzelnen Klangs im Gesamtgefüge ist. Mit «Occam Océan» hat die Komponistin Éliane Radigue einen Zyklus begonnen, der sich selbst ungewisse Grenzen setzt: Die Stücke sind fast unendlich kombinierbar, doch unlöslich mit den Interpret:innen verknüpft, für die sie entstanden sind. Eine Partitur gibt es nicht.

Ticket auch erhältlich als Kombiticket mit «Live From the Listening Lounge / Noémi Büchi» und «border line club culture X Nyege Nyege» oder als Teil des Tagespasses.

Koproduktion: ICST – Institute for Computer Music and Sound Technology

Beschreibung

Alvin Lucier: «Slices» (2007–2011)
für Cello solo und Orchester-Zuspiel

Ein klares Verfahren bestimmt die Form von Alvin Luciers «Slices» für Cello und Orchester von 2007. Der gesamte Tonumfang des Cellos, der als 53-tönige chromatische Tonleiter vom tiefen offenen C bis zum hohen E über dem Diskant angeordnet ist, wird von 53 Orchesterinstrumenten, denen jeweils einer der 53 Töne zugeordnet ist, als anhaltender Cluster zum Klingen gebracht, Register für Register. So wird das tiefste C von der Tuba gehalten, die nächst tieferen Töne von den Kontrabässen, dann von den Celli, Posaunen, Fagotten bis hin zu den Klarinetten, Oboen und Flöten in den höchsten Tönen. Es werden nur Instrumente verwendet, die einen Ton weich und so kontinuierlich wie möglich halten können (kurze Atemzüge sind bei den Blasinstrumenten erlaubt). Vor diesem Hintergrund dieser Cluster, der den gesamten möglichen Tonumfang des Cellos wie einen riesigen Fächer ausbreitet, entfaltet das Solocello in gleichmässigem und gemässigtem Tempo eine melodische Sequenz. Mit jedem Ton, den das Solocello erklingen lässt, verstummt das entsprechende Orchesterinstrument, das denselben Ton hält; im Laufe dieser 53-tönigen Sequenz wird der ausgehaltene Cluster also Ton für Ton ausgelöscht, bis zur schlussendlichen vollkommenen Stille. An diesem Punkt beginnt das Solocello mit einer anderen melodischen Anordnung der 53 Töne, und mit dem Erklingen jedes neuen Tons setzt das entsprechende Orchesterinstrument wieder ein und lässt das Ausgelöschte neu erklingen, bis die vollständige 53-Ton-Gruppe wieder erstanden ist. Dieser Prozess des abwechselnden Auslöschens und Wiedererklingens wird insgesamt siebenmal wiederholt, jedes Mal in einer anderen melodischen Anordnung, sodass das Werk am Ende der siebten Sequenz in Stille endet.

Lucier geht bei der Auswahl der melodischen Anordnungen systematisch vor: Er führt sich eine breite Palette möglicher Anordnungen vor Augen, um anschliessend gezielt eine handvoll davon auszuwählen, die den Cluster in kohärenten Mustern anordnen. Keil- und Wellenformen, die durch bestimmte Intervalle oder Intervallwechsel gegliedert sind, erzeugen den Eindruck, als würde hier in die Luft gemalt. In den wenigen Abschnitten, in denen die Orchesterinstrumente einsetzen, führen diese Muster zu prominenten Intervallarpeggien. Wenn die Orchesterinstrumente umgekehrt Stück für Stück aussetzen, führen diese Muster zu Nebenklängen, die Lucier höchstwahrscheinlich nicht intendiert hat. In meiner Interpretation des Soloparts versuche ich, so viele natürliche Obertöne wie möglich zu verwenden, um den differenzierten Raum zwischen der ursprünglichen Resonanz des Cellos, die durch die Obertonstruktur seiner offenen Saiten zu hören ist, und der unbeugsamen Herrschaft der tragenden Orchesterinstrumente in ihrer gleichschwebenden Chromatik hervorzuheben. Es fällt schwer, sich nicht an die Arbeit des Messdieners erinnert zu fühlen, der 53 Kerzen auslöscht, sie in einem anderen Muster wieder anzündet, sie wieder auslöscht und so weiter, bis sie ein letztes Mal ausgelöscht werden.

Das Orchester wird als virtuelles Cello rekonstruiert, oder als ein Resonanzraum, der genau auf die Frequenzen geeicht ist, die hier das Cello definieren. Ein 53-töniger chromatischer Cluster in gemischten Orchesterinstrumenten ist ein sehr komplexer Klang, der keiner Klangvorstellung entspricht, die wir üblicherweise von Orchestern oder Orchesterinstrumenten haben. Ohne Vorkenntnisse würde man schwerlich die Quelle dieses Klangs als Symphonieorchester identifizieren. Und den Hörer:innen, die die Erfahrung des Klangs als nicht zuordbar akzeptieren und sich darauf einlassen, kann es gelingen, den Zustand des Nicht-Wissens, des Nicht-Identifizierens während des gesamten Stücks aufrechtzuerhalten, selbst wenn nur eine handvoll Instrumente mit dem Cello zusammenspielen. Ohne erweiterte Techniken, ohne Bearbeitung oder Verzerrung, ja, sogar ohne Verstärkung hat Lucier den akustischen Klang traditioneller Instrumente zu einem Ort der Wahrnehmungsunsicherheit, der Verfremdung und der Entdeckung gemacht.

Für die heutige Aufführung wurden die Instrumente des Orchesters einzeln aufgenommen und mit mehreren Spuren versehen, um ein Höchstmass an Klarheit in Klangfarbe und Ausgewogenheit zu erreichen. Obwohl die Musiker:innen sie einzeln eingespielt haben, sassen sie dabei auf denjenigen Bühnenpositionen, die ihren jeweiligen Pultplätzen im Sinfonieorchester entsprechen. Die Aufnahmen wurden in der Conrad Prebys Concert Hall der U.C. San Diego gemacht, dem letzten vom legendären Akustiker Dr. Cyril Harris entworfenen Auditorium. Während der Aufnahmen erwies sich die Erfahrung, über einen Zeitraum von mehreren Tagen jeweils nur einen einzigen Ton von einer Vielzahl von Instrumenten zu hören, als eine Fallstudie über die bemerkenswerte akustische Komplexität dessen, was wir beiläufig als «einen einzigen Ton» bezeichnen. – Charles Curtis

Éliane Radigue: «Occam Ocean» (2011–)

«Occam XIII» (2015) für Fagott
«Occam River XXI» (2019) für Tuba und Harfe
«Occam Delta XVII» (2022) für Fagott, Cello und Harfe / Uraufführung
«Occam XI» (2014) für Tuba solo
«Occam River XI» (2015) für Fagott und Cello
«Occam Delta VIII» (2015) für Fagott, Tuba, Cello und Harfe

«Ich kann den Unterschied zwischen Klangfarbe und Klanghöhe, wie er gewöhnlich ausgedrückt wird, nicht so unbedingt zugeben. Ich finde, der Ton macht sich bemerkbar durch die Klangfarbe, deren eine Dimension die Klanghöhe ist. Die Klangfarbe ist also das grosse Gebiet, ein Bezirk davon die Klanghöhe. Die Klanghöhe ist nichts anderes als Klangfarbe, gemessen in einer Richtung.» – Arnold Schönberg, «Harmonielehre» (1911), Universal-Edition 1997, 503

«Der ‹Fluss› von Occam, der Ozean [okeanos], der grosse Strom, der die menschliche Insel umgibt und durch sie hindurchfliesst; das Gefühl, dass alle Gewässer der Welt eins sind, eine verstreute, aber integral verbundene Materie (hyle); und dass demnach der Klang selbst eine fliessende Grösse sein muss [in Anlehnung an die antike Unterscheidung zwischen Menge und Grösse], nicht durch abstrakte strukturelle oder symbolische Grenzen begrenzt, nicht diskret, nicht auf eine Zahl reduzierbar. [Hölderlins Konzept des Flusses als Sprachbild für den Verlauf der menschlichen Kultur; aber auch der physische Verlauf des Flusses als geologische und geografische Tatsache; der Fluss erodiert, gräbt sich in das Land ein und verzehrt es schliesslich]. Das Ozeanische als Unermessliches, als reiner Raum [Olsen in ‹Call me Ishmael›], sogar als Leere, die sich der Orientierung entzieht und jeglichen Ort verdrängt. Klang als ‹verzerrte Geometrie› (Hennix in ‹Poetry as Philosophy, Poetry as Notation›), verzerrt durch den Ort, an dem er sich befindet (Wände, Reflektionen, Materialien), ebenso wie durch die Klangquelle selbst.» – Charles Cross, «Oceanic Sound» (2011)

«Was für eine seltsame Erfahrung, nach so vielen Umwegen zu dem zurückzukehren, was schon immer da war: zur Perfektion akustischer Instrumente, dem reichen und subtilen Zusammenspiel ihrer Obertöne, Untertöne, Teiltöne, reiner Stimmung, die sich selbst überlassen ist – schwer fassbar, wie die Farben eines Regenbogens.» – Éliane Radigue, «The Mysterious Power of the Infinitesimal» (2008)

Nachdem Éliane Radigue sich über drei Jahrzehnte der Magnetband-Komposition mit Rückkopplung und Modularsynthese gewidmet hatte, wandte sie sich 2004 mit der Erarbeitung von Werken für Live-Performer und Instrumente der westlichen Konzerttradition zu. Das erste dieser Stücke, «Naldjorlak» für Cello solo, etablierte eine Form der Zusammenarbeit, bei der Komponistin, Interpret:in und Instrument eine Einheit bilden. Ohne eine Partitur als Grundlage, formen die Intstrumentalist:innen unter Radigues Anleitung die von ihnen mitgebrachrten Materialien und Techniken zu einem «Stück». Eine Folge dieser Arbeitsweise ist, dass jede Komposition nur von den Instrumentalist:innen aufgeführt werden kann, mit denen das Stück entstanden ist.

Seit 2011 arbeitet Radigue in diesem Sinne an «Occam Ocean», einer ineinandergreifenden Reihe kürzerer Stücke für Musiker:innen mit akustischen Instrumenten. Der Titel ist eine Hommage an den scholastischen Philosophen Wilhelm von Ockham und sein berühmtes «Rasiermesser», die protominimalistische Lehre, die besagt, dass Entitäten nicht unnötig vervielfältigt werden sollten und dass die optimale Lösung die einfachste ist.

Wie bei dem für «Naldjorlak» entwickelten Verfahren kommt für ein neues «Occam» ein:e Interpret:in zu Radigue, um einen spezifischen persönlichen Ansatz für das jeweilige Instrument zu finden; wenn die sich daraus ergebenden Klänge Radigue angemessen und überzeugend erscheinen, folgt ein gemeinsamer Prozess, in dem das Material unter Radigues Anleitung zu einem Stück geformt wird. Es wird keine schriftliche Partitur angefertigt; die Interpret:innen müssen sich auf ihr Gedächtnis verlassen und sich in Echtzeit den wechselnden Aufführungsbedingungen anpassen, um dem Stück seine unmittelbare Form zu geben.

«Occam Océan» begann als eine Reihe von Soli; das erste Stück der Reihe («Occam I») ist für Harfe. Es entstand in Zusammenarbeit mit dem walisischen Harfenisten Rhodri Davies und wurde im Sommer 2011 in London uraufgeführt. Das Interesse an Kombinatorik und Vielschichtigkeit, das sich durch Radigues gesamtes Schaffen zieht, erreicht hier einen Höhepunkt. Mehr als siebzig Stücke bilden nun einen regelrechten «Ozean» von instrumentalen Formen, der von Soli («Occam I - XXVII») über Duos («Occam River I - XXII»), Trios («Occam Delta I - XVIII») und grössere Gruppen («Occam Hexa I - IV», «Occam Hepta I») bis hin zum kleinen Orchester («Occam Ocean I») reicht. Die Besetzungen variieren zwischen gängigen Orchesterinstrumenten wie Geige, Bratsche, Cello, Bass, Trompete, Fagott, Tuba usw. und Instrumenten wie Dudelsack, Birbynė, Saxophon, Orgel, Kontrabassblockflöte oder Stimme. Die Auswahl dieser Instrumente liegt nicht bei Radigue allein, sondern ergibt sich aus persönlichen Begegnungen mit Instrumentalist:innen, die mit ihr gemeinsam ein neues «Occam« erschaffen möchten. Der Ausgangspunkt sind also nicht kompositorische Entscheidungen und schon gar nicht Orchestrationsstudien, sondern Lebensereignisse.

Die Ensemblestücke gehen von den Soli aus, schichten sie übereinander und kombinieren sie leicht angepasst miteinander, um die Transparenz der kombinierten Schichten zu optimieren. Die zufälligen Paarungen und Vervielfachungen von Instrumenten führen zu höchst ungewöhnlichen Klangfarbenkombinationen. Klangfarben, Spektren, akustische Anomalien und instrumentale Grenzphänomene bestimmen den Inhalt der einzelnen Stücke.

Es scheint kein Zufall zu sein, dass dieses kombinatorische Verfahren (ebenso wie jenes des «Naldjorlak»-Zyklus’) die «propositions sonores« von 1968-1971 wieder aufgreift, bei denen Tonbänder unterschiedlicher Länge in einer Schleife laufen oder gleichzeitig nach Belieben wiederholt werden. Diese Werke offenbaren eine Offenheit für formale Ergebnisse, die von der Komponistin nicht vorhergesehen waren und das Versprechen von Einmaligkeit und Unvollständigkeit in sich tragen. So betrachtet Radigue die «Occam«-Reihe als eine Komposition, die unvollendet bleiben wird. Angesichts der Anzahl der einzelnen Stücke und der geringen Wahrscheinlichkeit, dass jede mögliche Kombination einmal verwirklicht wird, stellt Radigue fest, dass «die Gesamtanlage des Werkes per se dessen Vollendung unmöglich macht». – Charles Curtis

Photo Credit Yves Arman/Fondation A.R.M.A.N.
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